Hallo Niki,
Selber habe ich live-stacking u.ä. leider noch nicht erlebt, kann mir aber vorstellen, dass es den heutigen Gewohnheiten, die Welt über einen zweidimensionalen Schirm zu erleben, entgegenkommt.
Ich denke, dahinter steckt schon etwas mehr Potential, als nur eine neue Gewohnheit, die Welt zweidimensional und abgeflacht, und damit irgendwie reduziert, zu erleben... Die Möglichkeit mit neuen Displaytechniken komplexe Vorgänge zu visualisieren lässt viele neue Anwendungen in Medizin, Wissenschaft und Technik denkbar werden. Die erhebliche industrielle Entwicklungsarbeit, die hineingesteckt wird, lässt erwarten, dass auch die Astronomie davon profitieren wird, sei es wissenschaftlich, sei es hobbymäßig, sei es pädagogisch.
Ich will niemandem hier zu nahe treten und halte bestimmt nicht jeden für hoffnungslos rückständig, der diese neuen technischen Möglichkeiten für sich ablehnt oder ihnen skeptisch gegenübersteht. Dafür kann man schließlich gute Gründe haben. Und selbstverständliche hat jeder das Recht, sich selbst auszusuchen, welche Beobachtungsmethoden er gut findet, weil er damit am besten zurechtkommt, oder ihm das Seherlebnis so am besten gefällt. So wie jedes Teleskop seinen Himmel hat, hat auch jede Beobachtungsweise ihre Berechtigung und jeder das Recht, die Vorzüge und Nachteile für sich selber zu bewerten und seine Erfahrungen hier kundzutun und sich darüber mit anderen auszutauschen.
Ich finde die Internetauftritte, mit denen die neuen elektronisch verstärkten Teleskope angepriesen werden sollen, zum Teil ja auch mehr als fragwürdig. Wenn hinter so gut wie jedem Absatz ein "Jetzt kaufen" Button folgt, wenn der Preis sich vorab plötzlich um mehr als die Hälfte reduziert hat, wenn Informationen über die verbaute Technik höchst vage bleiben usw., dann fragt man sich doch unwillkürlich, ob es hier nicht vor allem um's Absahnen geht. Den Leuten wird mit hübschen Bildchen der Mund wässrig gemacht, sich das nächste Life-Style-Produkt für die Sammlung Technischer Gadgets zu zu legen. Das gefällt auch mir nicht besonders.
Etwas anderes ist es aber, und ziemlich seltsam finde ich, dass einige geradezu feindselig oder verbittert darauf reagieren, wenn man generell auf die doch zweifellos vorhandenen Vorteile und das Zukunftspotential der EAA hinweist, und positive Erfahrungen damit schildert. Ich habe das Ganze schon öfter unbedarften Leuten im Vergleich und als Ergänzung zur klassischen visuellen Beobachtung präsentiert. Es steckt noch in den Anfängen und keiner weiß, wohin es mal führen wird. Aber die Resonanz war doch sehr positiv und fast alle haben sich gewundert, was für Dinge am Himmel man mithilfe der Elektronik schon in einem vergleichsweise kleinen Teleskop unmittelbar sichtbar machen kann. Nicht wenige erinnerten sich auch spontan an die manchmal vergleichsweise enttäuschende Erfahrung, die sie beim Blick durch ein viel größeres Teleskop an einer Sternwarte früher mal gemacht hatten und waren um so mehr beeindruckt.
Es hat sich auch niemand, den ich gefragt habe, über einen mangelnden "Live-"Charakter der Bilder beschwert. Ich denke sogar, dass die Idee beim eVscope keinen Bildschirm zu verwenden, sondern ein Okulardisplay, sehr zur Steigerung des Live-Charakters beim Beobachten beitragen dürfte und halte das für einen Pluspunkt gegenüber einem externern Bildschirm, solange man jeweils für sich allein beobachtet. Der Hinweis auf moderne Kamerasucher mit Live-View trifft es sehr gut, auch da haben sich manche, die früher klassische Spiegelsucher oder Messsucher zur Bildkomposition gewohnt waren zu Anfang sehr skeptisch gezeigt. Nicht zu unrecht, Bewegungsunschärfe, Rauschen bei zu wenig Helligkeit, mangelnde Dynamik bei Kontrast und Helligkeit etc. sind immer noch gewisse Schwachpunkte. Aber man erlebt mit jedem neuen Entwicklungssprung bei Kameras, oder z.B bei jedem Handy, dass die Schwächen der Displaytechnik von Generation zu Generation vermindert werden. Und wer nicht zu Wegwerfmentalität neigt, kann ja einfach ein paar Generationen aussetzen, statt als "Early-Adopter" viel Geld zu versenken, oder, statt solche integrierten Gesamtpakete zu kaufen, sich eine modulare EAA-Ausrüstung zulegen.
Kritik an der Videobeobachtung bekam ich bisher fast ausschließlich von denen zu hören und zu lesen, die das Ganze selber noch gar nicht erlebt haben, oder es von vorn herein für uninteressant oder sogar einen Verrat an der visuellen Astronomie halten. Damit habe ich zwar auch noch keine Probleme, Vorurteile sind manchmal überlebensnotwendig, man muß nicht auf jeden Zug aufspringen. Problematisch wird es aber dann, wenn unterstellt wird, hier ginge es um's Missionieren und darum, anderen etwas aufzwingen, was sie gar nicht wollen, oder darum, andere generell als technikfeindlich oder rückständig abzuqualifizieren. Das sind meines Erachtens reichlich absurde Vorwürfe auf persönlicher Ebene, die im Prinzip Totschlagargumenten ähneln, gegen die ja auch kein Kraut gewachsen ist und gegen die man sich nicht wehren kann. Man kann jeden in eine aggressive Ecke stellen, wenn man seine Worte bösartig genug auslegt, denn die Botschaft bestimmt der Empfänger, wie die Kommunikationswissenschaft lehrt, leider. Wer von anderen Sachlichkeit und Respekt einfordert, der sollte sich solcher Mittel nicht bedienen. Sonst steht er in meinen Augen da wie der Räuber im Märchen, der zwar laut ruft: "Haltet den Dieb, da läuft er..." aber damit nur sich selbst und andere davon ablenkt, was er selber ausgefressen hat. Oder zumindest auch mit ausgefressen hat. Darauf sollte man nicht hereinfallen.
Ich stelle mir vor, dass das Potential der neuen visuellen elektronischen Technologien so groß ist, dass sie auch vor der visuellen Astronomie nicht halt machen werden. Ich halte es auch nicht für einen Frevel, an ein historisches Teleskop einer Sternwarte ein Videookular, eine Kamera mit Bildschirm, eine Videobrille oder ein Nachtsichtgerät anzuschließen. Ich bin einfach nur neugierig, was dabei im Unterschied zu einem klassischen Okular, oder einer klassischen Kamera herauskommen kann. Wenn ich in Zukunft vielleicht bestimmte Frequenzbereiche im Spektrum schon im elektronischen Live-Bild hervorheben oder abschwächen kann, wenn ich mit elektronischer Kontrastverstärkung dank raffinierter Bildverarbeitungs-Algorithmen auch unter lichtverschmutztem Himmel wieder etwas von den faszinierenden Strukturen am Nachthimmel erleben kann, und meine Blick dabei frei dorthin manövrieren kann, wo ich will, wenn ich so die Veränderungen am Himmel live miterleben kann, die Dynamik von Konstellationen verfolgen, usw. dann ist das m.E. eine Bereicherung und keine Entfernung vom Live-Erlebnis. Doch das mag jeder anders sehen.
Vieles mag auch Zukunftsmusik bleiben, manche Erwartung sich nicht erfüllen. Aber wenn astronomische Erlebnisse und Ergebnisse einfacher zugänglich werden, wenn auch vielleicht etwas plakativer, ist das doch zunächst eimal eine erfreuliche Erweiterung der Möglichkeiten. Wenn das in Zukunft auch für Leute erschwinglich wird, die vielleicht nicht die Zeit und das Geld haben, den Großteil ihrer Freizeit der Hobbyastronomie zu widmen, kann ich daran nichts Schlechtes finden. Kann natürlich sein, dass es auch schneller wieder abstumpft, und eine langanhaltende Faszination verhindert. Das wird auch von der technischen Entwicklung abhängen. Sicher ist es auch nicht schön wenn einige erleben müssen, dass ihnen in Zukunft vielleicht weniger Bewunderung für ihre Leidenschaft gezollt wird, weil es zunehmend einfacher wird, tolle Astrofotos aufzunehmen. Oder dass ihre komplexe Erfahrung und Beratung zu rein visueller astronomischer Beobachtung vielleicht etwas weniger gefragt sein wird. Das ist leider der Preis bei solchen Entwicklungen, weshalb ich das alles auch nicht nur rosig sehe. Aber man sollte bei neuen Entwicklungen auch die Chancen sehen und nicht in den Fehler verfallen, die gute alte Zeit schöner zu malen, als sie es je war...
Gruß,
Mathias