Hallo Alex,
grundsätzlich eine recht interessante Frage. Vor allem, da es ja tatsächlich so ist wie du schreibst:
wenn es um die Geschichte der Sonnenfinsternisse geht, dann hört man oft, dass die Alten Ägypter die Sonnenfinsternisse vorhersagen konnten.
Nun fühle ich mich irgendwie berufen als astronomisch interessierter Althistoriker mal meinen Senf dazuzugeben.
Dass die Babylonier, die Ägypter, die Griechen und viele andere Ethnien, Kulturkreise, Gemeinschaften usw. beobachtende Astronomie betrieben, die bisweilen recht präzise war, ist unumstritten. Es gibt zudem einige Hinweise darauf, dass Menschen bereits in protohistorischer Zeit (nennen wir es mal flappsig "Steinzeit" bis Bronzezeit) recht genaue Beobachtungen durchführten (Ausrichtung von Heiligtümern und Kultorten sind eingängige Beispiele). In hellenistischer und römischer Zeit entwickelte sich dies schließlich zu einer auch schriftlich immer mehr fixierten Wissenschaft. Eines darf man nicht vergessen: der kultisch-sakrale Charakter ging dabei niemals verloren. Selbst Personen, die man getrost als wissenschaftlich arbeitende Astronomen in einem antiken Sinne bezeichnen kann, wie Hipparchos oder Ptolemaios, waren nicht gänzlich von diesen Bezügen befreit.
Die zum Teil sehr weit fortgeschrittenen mathematischen Methoden der Antike sind ebenfalls hinlänglich bekannt. Das rein theoretische Rüstzeug zum Berechnen astronomischer Ereignisse war also - mit gewissen Einschränkungen - durchaus gegeben.
Was allerdings deutlich dagegen spricht, ist ausgerechnet die Praxis. So präzise die babylonischen, ägyptischen und griechischen Beobachtungen auch erscheinen mögen - und für die damaligen Verhältnisse stimmt das sicherlich auch -, nach heutigen Maßstäben waren sie es nicht. Es fehlte einfach das passende Gerät. Alles was sich damals messen ließ, geschah mit einfachen geometrischen Apparaturen vom Boden aus. Damit lassen sich ungefähre Positionen von Sternen, Planeten und anderen Himmelskörpern in der Genauigkeit von wenigen Grad bestimmen, aber es hatte deutliche Grenzen.
Den antiken Wissenschaftlern war zwar bewusst, dass eine Sonnenfinsternis entsteht, wenn der Mond bei Neumond zwischen Erde und Sonne tritt; dieses Konstrukt funktionierte schließlich auch mit einem geozentrischen Weltbild. Sie wussten auch um die Neigung der Mondbahn, was ja bedeutet, dass der Mond den auf- oder absteigenden Knoten durchlaufen muss, um eine Finsternis auszulösen. Allerdings waren ihnen andere wichtige Eigenschaften des Erde-Sonne-Mond-Systems völlig unbekannt. So war etwa die Mondparallaxe fast unmöglich genau zu berechnen, was es wiederum erschwerte vorauszusehen, wo auf dem Erdkörper eine totale, wo eine partielle Sonnenfinsternis eintreten würde. Aber partielle Sonnenfinsternisse selbst von mehr als 90% sind fast nicht wahrnehmbar, wenn man nicht mit geeignetem Instrument in die Sonne schaut und auch noch genau weiß, wann man dies zu unternehmen hat. Der Mond läuft auch nicht völlig gleichmäßig auf seiner Bahn, sondern wird durch weitere gravitative sowie relative Effekte beeinflusst (etwa, ob der Mond bei Neumond im Apo- oder Perigaeum steht usw.). All diese Einflüsse zeigen sich für einen Beobachter mit dem bloßen Auge nicht am Himmel, haben aber schon allein wegen der sehr unterschiedlichen Größenverhältnisse und Entfernungen bisweilen einen nicht zu unterschätzenden Effekt, will man eine Finsternis für ein sehr kleines Gebiet, wie beispielsweise das nördliche Ägypten vorhersagen.
Des Weiteren kann man auch einen Blick auf die wissenschaftliche Methodik in Verbindung mit den oben genannten Punkten werfen. Wir wissen ja von den Babyloniern, dass diese schon sehr früh recht detaillierte astronomischen Beobachtungen durchführten und diese auch festhielten. Es sind jedoch, soweit ich dies überblicken kann, keine frühen, systematischen und vollständigen Aufzeichnungen von Sonnenfinsternissen bekannt (weder aus babylonischern, ägytischen, griechischen oder römischen Quellen), die über einen Zeitraum von Jahrzehnten oder länger gegangen wären. Diese hätten dann auch noch neben den auffälligen totalen Sonnenfinsternissen die partiellen Beinhalten müssen, was aus den schon ausgeführten Argumenten sehr unwahrscheinlich ist.
Ich bin zwar nicht gerade ein Experte für die ägyptische Wissenschaftsgeschichte. Aber alles in allem ist nicht davon auszugehen, dass dort irgendwelche Methoden bekannt waren, die weder in der griechischen noch in der römischen oder später der arabischen Literatur zu diesen Themen erwähnt wurden. Ptolemäus selbst lebte und wirkte ja - wie sein Name schon verrät - in Ägypten und hatte sicherlich bestmöglichen Zugang zur dortigen "Fachliteratur".
Wenn denn tatsächlich ein antiker Gelehrter - und an den meisten solcher überlieferten Anekdoten bestehen sehr begründete Zweifel - mal eine Sonnenfinsternis korrekt vorhergesagt haben sollte, so mag er dank intensivstem Studium und jahrelanger Beobachtung vielleicht eine wage Ahnung gehabt haben, wann die Umstände günstig waren (Neumond, aufsteigender Knoten, Stellung des Mondes in der Ekliptik). Doch selbst dann wäre eine solche erfolgreiche Vorhersage in erste Linie eins gewesen: Glück! Was es gab - für Babylon ist dies belegt - war quasi die Vorhersage der Möglichkeit einer Finsternis. Allerdings war man dann im Allgemeinen sehr froh, wenn dies nicht eintrat, galt es doch als ausgemachtes Unglückszeichen...
Ich kann allen, die diese Thematik interessiert nur folgenden Aufsatz ans Herz legen:
Otta Wenskus, Die angebliche Vorhersage einer Sonnenfinsternis durch Thales von Milet, Hermes 144.1, 2016, S. 2-17.
Speziell zu den Ägyptern findet sich ein lesenswerter Artikel bei:
Andre Pichot, Die Geburt der Wissenschaft. Von den Babyloniern zu den frühen Griechen, Frankfurt/New York 1995, S. 200-217.