Sie müssen zwei Dinge auseinanderhalten:
1. Porro macht es etwas einfacher, ein großes Zwischenbild (und somit großen lichten Durchmesser der Feldblende) zu erzielen. Hier geht es also um Zusammenhänge die sich auf den vorderen Abschnitt des Fernglases vom Objektiv über das Prismensystem bis zum Zwischenbild beziehen. Ein ausreichend großes Zwischenbild, das letztlich vorgibt, wie groß der maximal mögliche (also mit einem ebenfalls für diese Zwischenbildgröße ausgelegten Okular) tatsächliche Sehwinkel bzw. das maximal mögliche Sehfeld (in Meter auf 1000 m) sein kann, ist notwendige Voraussetzung für einen großen scheinbaren Sehwinkel, aber dafür noch nicht hinreichend. Erst wenn dann auch noch ein entsprechendes Okular hinzukommt, wird ein großer SSW möglich.
2. Unabhängig davon, welcher Art das Prismensystem ist, gilt die Regel, daß es um so schwieriger ist, ein Okular mit großem AP-Längsabstand (= Pupillenabstand in Ihrem Text) zu konstruieren, je größer der scheinbare Sehwinkel ist*. Sie können sich das durch Betrachten des erforderlichen freien Hinterlinsendurchmessers plausibel machen: Je größer bei gleichbleibendem AP-Längsabstand der SSW ist, um so größer muß der freie Linsendurchmesser sein. Und je größer bei gleichbleibendem SSW der AP-Längsabstand ist, um so größer muß ebenfalls wieder der freie Linsendurchmesser sein. Sie sehen, daß beide Eigenschaften – großer SSW und großer AP-Längsabstand – genau dieselbe Forderung stellen, nämlich der der freie Linsendurchmesser groß sein muß. Um beides zu verwirklichen, muß der freie Linsendurchmesser also riesig groß werden. Und das ist, von den konstruktiven Schwierigkeiten bei der Aberrationsbeseitigung mal ganz abgesehen, nicht nur eine extrem preistreibende Sache, sondern stößt auch wegen des für die Nase zwischen den Okularen benötigten Platzes an Grenzen.
Sie sehen, daß das eigentliche Problem im Punkt 2 liegt und mit Porro oder Dachkant zunächst gar nichts zu tun hat. Nur wird dieses Problem bei den Porrogläsern eher relevant und darum auch für Sie sichtbar, weil dieses Prismensystem bezüglich der von ihm freigegebenen Zwischenbildgröße eher für besonders große Sehwinkel prädestiniert wäre (wenn es denn geeignete Okulare zu erschwinglichen Preisen und mit praxisgerechten Außendurchmessern gäbe, die sowohl einen großen SSW als auch einen großen AP-Längsabstand bieten). Außerdem gab es zu damaligen Zeiten, auf die Sie sich immer wieder beziehen, fast keine Dachkantgläser, weil sie deutlich teurer in der Fertigung und wegen des damals noch nicht bekannten Phasenbelags trotz des höheren Preises qualitativ unterlegen waren. Auch das hat in Ihrem Kopf die Meinung geprägt und verstärkt, daß Porroprismen an sich schon die Zauberformel für einen großen SSW seien.
* In früheren Zeiten, von denen Sie immer schwärmen, wenn Sie die großen Sehwinkel alter Militätferngläser (insbesondere der Marke Huet) zitieren, lag die Priorität auf großem SSW, und keiner scherte sich im die Bedürfnisse der Brillenträger. Damals waren junge Soldaten, die nur zu kleinem Prozentsatz Brillenträger waren, die Fernglasbenutzer. Heute aber sind gerade im hochpreisigen Qualitätssegment die kaufkräftigeren und qualitätsbewußteren „Senioren“ ab 45 Jahre die wichtigste Käufergruppe, und diese Menschen tragen zu mehr als 50% eine Brille. Also werden nicht brillentaugliche Ferngläser fast unverkäuflich. Und somit mußte man zugunsten eines größeren AP-Längsabstandes den SSW reduzieren. Daß man heute trotzdem 60° und mehr erreicht, ist ein riesiger Fortschritt. Durch die von Ihnen immer so vorbildhaft dargestellten Militärferngläser mit noch größerem SSW, aber AP-Längsabständen von oft weniger als 10 mm sieht ein Brillenträger oft nicht mehr als lächerliche 40°. Man sieht bei gleich hoher Vergrößerung mit einem SSW von 60° immerhin ziemlich genau die 2,5fache Fläche wie bei 40°!
Ich hoffe, Sie verstehen jetzt, was „zum Kuckuck“ vorher nicht in Ihren Kopf wollte.
Walter E. Schön